Familie Cantürk

Manchen Menschen mutet das Schicksal mehr zu, als erlaubt sein dürfte. Zu ihnen gehört das blinde Ehepaar Leyla und Erkan Cantürk aus Echterdingen.

Die Sehnsucht nach einer eigenen Familie wurde erfüllt, doch das Glück währte nicht lange: Nach einer Fehlgeburt kam Tochter Seher mit schwerem Herzfehler zur Welt; später stellte sich bei der heute 17-Jährigen chronisches Rheuma ein. Die zweite Tochter Ebru starb 2004 zweijährig an einer Tumorerkrankung.
 
In jenem Jahr drohte die Familie an der Last der seelischen Schmerzen fast zu zerbrechen, als sie auf Umwegen nach Tannheim fand. „Das war die Wende in unserem Leben", sagen die Eltern. Vor vier Jahren wurde die kerngesunde Tochter Selin Tuba geboren. Unlängst absolvierte die Familie erneut eine Reha in der familienorientierten Nachsorgeklinik – Seher hatte zuvor einen Rheuma-Schub. Zurzeit ist sie stabil. Dass das so bleibt, ist der einzige Wunsch der Cantürks für die Zukunft. „Auch wenn das viele Leute nicht verstehen, aber wir sind glücklich. Das haben wir Tannheim zu verdanken."
 

Achterbahnfahrt der Gefühle

Leyla und Erkan sind in Deutschland geboren und lernten sich in einem Stuttgarter Internat für Sehbehinderte kennen und lieben. Beide verloren ihre Sehfähigkeit aufgrund von Netzhautablösung. Sie können lediglich hell und dunkel unterscheiden, haben aber eine Erinnerung an die Farbigkeit der Welt. Leyla wurde zur Telefonistin ausgebildet, Erkan zum Metallwerker.
 
Gegen äußere Widerstände heirateten die beiden 1994 und bezogen eine eigene Wohnung, rangen um Autonomie und um einen Platz in der Gesellschaft. Die folgenden Jahre waren eine Achterbahnfahrt der Gefühle mit vielen Tiefs und wenigen Hochs.

Als Seher 1998 auf die Welt kam, hatte sie ein Loch im Herzen und Blut in der Lunge. Sie gewann den operativen Marathon um ihr Leben und die Cantürks wähnten sich vollends im Aufwind, als 2002 Ebru geboren wurde. Zwei Jahre später starb sie an einem Neuroblastom, ein aggressiver Krebs in den Nebennieren. „Das Allerschlimmste war, dass wir unsere Töchter, die wir schon nicht sehen können, im Krankenbett nicht berühren durften,", deutet die Mutter die schwersten Phasen bei der Begleitung ihrer Kinder an.

Eine Reha in Tannheim

Die Zusage für die onkologische Reha in Tannheim 2004 wurde vom Kostenträger wieder zurückgezogen, „weil mit Ebrus Tod der Rehabilitationsgrund fehlte", erinnert sich Erkan Cantürk. Die Klinik wurde initiativ und ermöglichte mit Hilfe der Stiftung für das chronisch kranke Kind eine Reha für verwaiste Familien.
 
Nach Jahren des Kämpfens, Siegens und Verlierens konnte die Familie durchatmen, hatte Pause, genoss den Mantel von Geborgenheit, therapeutischer Kompetenz und menschlicher Wärme. „Wir waren völlig am Ende, es war zu viel", fassen Leyla und Erkan ihren Gemütszustand „vor Tannheim" zusammen.

Die Konstanzer Firma Inselhüpfen lud in Kooperation mit der Stiftung im zurückliegenden Sommer die Cantürks zusammen mit sechs weiteren Familien zu einer einwöchigen Segelreise nach Süddalmatien ein. „Das war unser erster richtiger Urlaub und es war ein Traum", schwärmt Seher von gemeinsamen Abenteuern. Ihr Rheuma hatte sich wieder verschlimmert; sie musste eine weitere Chemotherapie absolvieren, als die Familie vor wenigen Wochen in Tannheim erneut Energie für ihren schweren Alltag tankte.
 

Arbeit im Dunkelrestaurant

Der Vater arbeitet mittlerweile im Esslinger Dunkelrestaurant des Vereins „Aus: Sicht" und serviert sehenden Menschen in schwarzer Finsternis ein Vier-Gänge-Menü. „Die Leute kommen ängstlich und sind am Ende locker. Unser Verein geht auch in Schulen, um Jugendliche für die gesellschaftliche Integration von Behinderten zu sensibilisieren."
„Wir blicken zuversichtlich in die Zukunft", versichert Leyla Cantürk. „Ohne Tannheim hätten wir unser Leben niemals in den Griff bekommen. Dieses Haus ist ein Segen."